Geschrieben im Jahr 2014  (ich würde heute ein paar Dinge ergänzen oder anders schreiben aber für einen ersten Überblick taugt der Text schon noch)

Naturwein ist der radikale Gegenpol zu konventionell hergestellten Weinen – wobei es, um spezifischer zu werden, eine Antwort ist auf die industrielle, gebrandete und globalisierte Weinwelt. Naturwein versucht den Weinen Authentizität abzuringen. Naturwein blickt tief in die Vergangenheit, um diese dann zu transformieren und somit zur neuen Avantgarde zu werden. Naturwein setzt auf lokale Traditionen und lokale Rebsorten. Naturweinbewegungen grenzen sich drastisch von konventionellen Strömungen ab und besetzen die Nischen der Weinwelt – das sind nur einige Gedanken, die man von Naturweinwinzern zu hören bekommt, wenn man sie nach ihrem beruflichen Selbstverständnis fragt.

Naturwein ist aber noch viel mehr. Ein wesentlicher Aspekt, der in den meisten Diskussionen über den Begriff konsequent ausgeklammert wird, ist der ethische Hintergrund, der den meisten Naturweinwinzern gemein ist und den man durchaus als einigenden Nenner sehen kann. Dabei geht es in mehrfachem Sinne um Verzicht. Zum einen enthält man sich im Weingarten möglichst all jener Optionen, die einem von der Agrarindustrie angeboten werden, seien es nun Kunstdünger, Pestizide, Botrytizide und anderen Kampfstoffe. Viele Naturweinwinzer belassen es freilich nicht dabei keine Chemikalien zu verwenden, sie versuchen auch den Einsatz mechanischer Hilfen (wenig Traktoreneinsatz, keine Lesemaschinen etc.) zu minimieren.

Verzicht kann allerdings nur dann geübt werden, wenn man für das, was im Weingarten passiert ein tiefes Verständnis entwickelt und die Geduld und zusätzlichen Mühen auf sich nimmt, die dezidiert biologisches Arbeiten mit sich bringen. Prinzipiell geht es dabei auf der einen Seite darum, die Monokultur, die Weingärten und Rebstöcke darstellen, aufzubrechen. Biodiversität ist ein Schlagwort, dass man relativ bedenkenlos über das Kollektiv der Naturweinwinzer stülpen kann, ohne dabei die persönlichen Dimension, die jeder Winzer (und jeder Weingarten und Rebstock) mit sich bringt, zu unterminieren. Lebendigkeit im und über dem Boden ist folglich ein gemeinsames Ziel. Individuelle Ansätze gibt es dabei so viele wie es Naturwein-Winzer gibt. Anstelle der täglichen Spritzanleitungen, die vielen Winzern für- und vorsorglich tagtäglich von der Industrie auf den Computer geschickt wird, gehen Naturweinwinzer eigene Wege, wobei durchaus reger Austausch untereinander (siehe Vereinigungen) wie auch mit Universitäten besteht.

Vielfalt ist ein weiteres Schlagwort, das relativ problemlos die Unterschrift vieler finden würde. Dabei geht es unter anderem um die Erhaltung lokaler Unterschiede (Paolo Babini in der Romagna hat beispielsweise 15 verschiedene Sangiovesetypen in seinem kleinen Weingarten) und mindestens ebenso elementar ist die Erhaltung alter autochthoner Rebsorten. Exemplarisch dafür steht die Winzergruppe der Dolomitici mit dem CISO, einem Wein, den sie aus den noch verbliebenen 727 Stöcken einer steinalten Trentiner Rebsorte, der Lambrusco a foglia frastagliata, gekeltert haben. Es ist nur ein Beispiel unter vielen. Vielfalt bedeutet aber auch der Blick zurück in die Vergangenheit. So greifen viele Naturweinwinzer auf Reberziehungssysteme zurück, die entweder von den Weinschulen als unökonomisch oder von der Weinkritikerschaft als qualitativ wertlos (Pergola) betrachtet wird. Wie eingangs erwähnt fußt dabei vieles auf einem ethischen Grundverständnis, doch verläuft parallel dazu auch die Überzeugung, dass im Weingarten gut versorgte Reben auch bessere Weine ergeben.

Fakt ist definitiv, dass Rebstöcke, die nicht totgespritzt sind, langlebiger sind und sich alte Reben im Allgemeinen besser selbst regulieren und selbst von dezidierten Opponenten der Naturweinbewegung gerne als Qualitätskriterium für exzellente Weine herangezogen werden (und mit alten Reben meint man solche, die mindestens 50 Jahre am Buckel haben, gelegentlich aber auch 70 oder 100 Jahre). Ein weiterer fundamentaler Vorteil scheint ein relativ schnell eintretendes Gleichgewicht innerhalb des Rebstocks zu sein und eine kontinuierliche, nicht manipulierte Entwicklung, die oftmals zu früherer physiologischer Reife bei folglich niedrigeren Zucker- und Alkoholgradationen führt.

Die Folgerung, dass dezidiert biologisch bearbeitete Weingärten ihr Terroir, ihre Böden, kurz ihre natürliche Umgebung besser wiedergeben, ist zwar hypothetisch, doch liegt es irgendwie auf der Hand, dass man aus Stöcken und Böden, die ihr Leben lang keine Herbizide, Pestizide & Co. gesehen haben, auch authentischere Weine keltern kann.

Ein weiterer Faktor, der gerne übersehen wird, ist das Bestreben vieler Naturweinwinzer, sich nicht in die Abhängigkeit der Agrarindustrie zu begeben. Schon für Nicholas Joly war das ein ganz grundsätzlicher Aspekt seiner Konvertierung zum biologischen und später zum biodynamischen Weinbau – viele weitere sollten folgen. Die Liste der zugelassenen Mittel ist lang, der Reiz den Stock zu dopen so groß wie die Versprechungen, die damit einhergehen. Dass man dabei einen Stein ins Rollen bringt, der sich im Laufe der Jahre zu einem Fels entwickelt, ist schwer von der Hand zu weisen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sich die ganze Geschichte im Keller meist konsequent fortsetzt.

Womit wir beim zweiten Punkt wären, der für manche die wesentlichere Komponente im Verständnis, was Naturwein eigentlich ist, ausmacht (im Laufe der Jahre bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der Weingarten alle Voraussetzungen liefern muss, um im Keller natürlich weiterarbeiten zu können). In Österreich und Deutschland herrscht dabei die etwas eigenwillige Vorstellung, dass sich Naturwein vor allem in Gestalt mazerierter/oranger Weine manifestiert. Der Grund mag darin liegen, dass diverse Händler beides gleichsetzen und mit entsprechendem Aufwand auch medial transportieren. Prinzipiell ist es, denke ich, so, dass mazerierte Weine reichlich wenig mit Naturwein per se zu tun haben. Es gibt zwar viele Winzer, die man bedenkenlos in die Schublade der Naturweinwinzer stecken kann und die mazerierte Weine produzieren, doch tun sie das zumeist nicht aus dem Verständnis heraus, es tun zu müssen, um einer kleinen Nische anzugehören, sondern aus einer Handvoll anderer Gründe. Zum einen gibt es Gegenden, in denen mazerierter Weißwein eine lange Tradition hat: Slowenien, Kroatien und die Colli Orientali im Friaul sind dabei an erster Stelle zu nennen und aus dieser Ecke kommen auch die besten Beispiele – die langen Jahre, die dieser Stil von dort ansässigen Winzern gepflegt wird, liefert einen Wissens- und Erfahrungsvorsprung, der nicht so ohne weiteres aufzuholen ist.

Ein weiterer Grund, der vor allem den Rest Italiens betrifft, ist ganz einfach der, dass man durch eine kurze Mazeration ein weiteres Strukturelement in den Wein integriert, der den oft säure- und aromaarmen Weinen eine neue Dimension verleiht. Früher mokierte man sich gerne über die trostlose Langeweile italienischer Weißweine, heute raunzen dieselben Leute darüber, dass man sich dieser Langeweile mittels neuer Stilistiken zu entziehen versucht. Beispiele, dass ein dezenter (oder dezidierter) Schalenkontakt notorisch schwierigen weißen Rebsorten gut tut, gibt es in der Zwischenzeit in Hülle und Fülle – man siehe nur, was für brillante und spannende Weine aus der Albana in der Romagna, der Nosiola im Trentino, der Malvasia in der Emilia, Toskana und Umbrien und allen voran aus der Trebbiano in ganz Zentralitalien gekeltert wird. Ich verstehe schon, dass man es nicht nötig hat (und es sogar kontraproduktiv ist), einer Rebsorte wie dem Riesling oder dem Chardonnay neben ihren Säurestrukturen noch eine zusätzliches Element mitzugeben, was ich nicht verstehe, ist die Arroganz, die den Versuchen, aus nicht ganz so privilegiertem Rebmaterial, gute und bisweilen exzellente Weine zu produzieren, entgegengebracht wird. Prinzipiell handelt es sich bei mazerierten oder maischevergorenen Weine also vor allem um eine neue Stilistik, um einen vierten Weg (neben Weiß, Rosé und Rot), der vielmehr einer Reaktion auf vorherrschende natürliche Umstände (Rebsorte, Klima) geschuldet ist, als der Idee, Wein so natürlich wie möglich zu produzieren (das eine schließt freilich das andere nicht aus).

Ähnliches kann man über den Ausbau in Amphoren sagen. Generell handelt es sich hier schlicht um ein weiteres Gefäß, in dem Wein vergoren und über eine gewisse Zeit auch gelagert werden kann und das die Weinwelt um eine neue/alte Komponente erweitert. Der wesentliche Faktor, warum man den Amphorenausbau gerne ins Naturweineck stellt, liegt darin, dass Naturweinwinzer experimentierwillige Zeitgenossen sind und die Renaissance der Amphore von ihnen ausging (Josko Gravner und COS in Italien, Sepp Muster in Österreich). Einen weiteren Grund kann man auf den Fakt zurückführen, dass die Vinifizierung in der Amphore quasi interventionsfrei ablaufen kann (Spontanvergärung, keine Temperaturkontrolle, keine frühzeitige Schwefelung, Mostvorklärung, keine Hefenährstoffe etc.) einer natürlichen Weinwerdung, legt man es denn darauf an und sollte man auch tatsächlich über exzellentes Traubenmaterial verfügen, nichts im Weg steht. Amphoren haben in letzter Zeit erstaunlicherweise aber auch die Aufmerksamkeit konventioneller Winzer erregt und würde man die Möglichkeit haben, in georgische LKWs (die Heimat der Amphoren) zu schauen, die in Richtung Mitteleuropa aufbrechen, würde man vermutlich in jedem zweiten ein paar Amphoren finden. Kurz und auf den Punkt gebracht – die Existenz einer Amphore in einem Weinkeller muss noch lange nicht bedeuten, dass man es mit einem Naturweinwinzer zu tun hat.

Den dritten Aspekt, der vor allem von französischen und angloamerikanischen Vertretern (positiv und negativ) in die Diskussion geworfen wird – die Absenz von SO₂ – halte ich dagegen, wenn auch indirekt, für essentiell. SO₂ – Schwefeldioxid – ist das chemische Additiv, auf das man im Keller am schwersten verzichten kann. Über seine Funktion ist an anderer Stelle schon ein wenig geschrieben worden, über seine symbolische Bedeutung sollte man allerdings auch noch ein paar Worte verlieren. Ziel aller Naturweinwinzer ist es, so wenige Zusatzstoffe wie möglich zu verwenden und nur dann zu intervenieren, wenn es dringend notwendig ist. Dass Wein trotz allem ein essentielles Kulturprodukt bleibt, liegt an der Vielzahl der Entscheidungen, die ohnehin getroffen werden müssen (Ganztraubenpressung, Rebeln, Mazeration, bewusste Mostoxidation, Pressen, Wahl des Gebindes, Ausbauzeit uvm.): ohne Winzer läuft gar nichts (auch wenn viele Naturweinwinzer diesbezüglich eine falsche Bescheidenheit an den Tag legen). Doch gibt es Grenzen, deren Limit in den letzten vier bis fünf Jahrzehnten arg strapaziert worden ist. Die Liste der potenziellen Additiva ist so lang, dass man mit der simplen Lektüre und den Angebotslisten der Agrarkonzerne schon ein paar Stunden verbringen kann, versucht man dann auch noch Wörter wie Pektinmethylesterase und Polyvinylpolypyrrolidon korrekt auszusprechen und ihre Funktion zu verstehen, darf man auch etwas mehr einkalkulieren. Aufgrund der Vielfalt an Manipulationsmöglichkeiten, der drohenden Degeneration von Wein zu einem austauschbaren High-Tech-Gesöff und um sich dezidiert von Industrieweinen abzugrenzen, verwundert es wenig, dass sich viele Winzer radikalisiert haben und ähnlich wie im Weingarten den Weg des totalen Verzichts gehen, und folglich, und hier schließt sich der Kreis, auch kein Schwefeldioxid verwenden. Weine, die derart und folglich völlig interventionsfrei entstehen, bedürfen unglaublicher Sorgfalt im Weingarten (kein Gramm faules Rebmaterial) und viel Erfahrung und Wissen von Seiten der Winzer. Weine, die ohne Sulfite produziert werden, weisen bisweilen sensorisch eigenständige Noten auf, ihnen generell Fehltöne vorzuwerfen (was gerne gemacht wird) ist einerseits ignorant und zeigt zum anderen wie degeneriert unser Gaumen durch all die Streicheleinheiten geworden ist, die uns die hochtechnologischen, schönen, neuen Weinwelten vorgaukeln. Es gibt schon mal Fehltöne und nicht jeder Wein gelingt, aber warum auch. Wein ist zwar ein Kulturprodukt aber eines, das seinen Ursprung in der Natur und nicht im Labor hat. Das hinter diesen Herangehensweisen eine Menge Individualität, Charakter und Mut steckt, lohnt außerdem jeden Schluck.

Zudem ist der Komplettverzicht auf Schwefel die gloriose Ausnahme, die meisten Winzer verwenden Kleinstmengen, die ihnen freilich für die Stabilität der Weine essentiell scheint. Da und dort wird auch sonst eingegriffen, gelegentlich wird mal gefiltert, von Zeit zu Zeit sieht ein Wein ein wenig Bentonit, die grundsätzliche Intention ist es freilich, möglichst die Traube und folglich den Wein sprechen zu lassen.

Dazu gehört ein weiterer Punkt, den ich als absolut zwingend erachte und das ist der Verzicht auf Reinzuchthefen. Naturweinwinzer verwenden Hefestämme, die sich bei ihnen im Weingarten und Keller befinden. Hefen sind zwar mikroskopisch klein aber hochindividuell und üben einen eminenten Einfluss auf den Geschmack des Weins aus (hier dazu mehr). Sie sind elementare Repräsentanten ihres Terroirs und deshalb essentiell, um die Charakteristika eines Weinbergs wiederzugeben. Die Obsession, mit der die Verwendung von Reinzuchthefen verteidigt (neutrale nie aromatische Hefen, wie stets betont wird) und wilden Hefen angefeindet wird, wirkt manchmal so, als wäre ein Teil der Winzerschaft durch die Gänge des Brainwash Coffees geschleppt worden.

Dass sich innerhalb der Bioweinszene riesige Unterschiede ausmachen lassen, liegt vor allem daran, dass man auch bei Bioweinen ein erstaunliches Arsenal an legalen Interventionsmöglichkeiten hat, die von klassischen Naturweinwinzern zwar nicht oder nur kaum genutzt werden aber trotzdem mit dem Biosiegel versehen durchgewunken werden können. Zwar gab es im Jahr 2012 eine neue Bioweinnovelle der EU, doch endete die Paragraphenauflistung in einem ziemlichen Desaster – warum das so ist, kann man bestens im Netz nachlesen. Kurz zusammengefasst ist der einzig wesentliche Beschluss derjenige gewesen, die Sulfitwerte im Vergleich zu konventionellen Weinen dezent zu senken. Der Rest beruht auf Empfehlungen und eben nicht auf Verboten chemischer und physikalischer Prozesse, deren Verwendung von den meisten Naturweinwinzern kategorisch abgelehnt wird – aufschlussreich ist hier beispielsweise die Liste erlaubter Behandlungsmaßnahmen von Ecovin, dem durchaus verdienstvollen Bundesverband ökologisch arbeitender Weingüter in Deutschland.

Möchte man der Ideenwelt dezidierter Naturweinwinzer genauer auf die Spur kommen, ist es sinnvoll sich durch die Manifeste diverser Naturweinbewegungen zu ackern. Danach kann man zwar – sieht man von den Fünf Steirern rund um „Schmecke das Leben“ und die slowenisch-friulanische SIMBIOSA-Koalition ab – im mitteleuropäischen Raum lange suchen, in Frankreich, der eigentlichen Basis der Naturweinbewegung und Italien dagegen finden sich breite Zusammenschlüsse, deren Konzepte auch entsprechend zusammengefasst sind. Das ganze erinnert ein wenig an die klassischen Avantgardebewegungen zu Beginn des letzten Jahrhunderts, deren Intentionen ebenfalls immer wieder in Manifesten der Welt vorgestellt wurden.

Grundsätzlich ging es dabei, um einen Bruch mit Konventionen und vorgegeben Standards, um eine neue Ästhetik. Um eine Neubewertung von Traditionen. Um eine neue Ethik. Man kann das quasi 1:1 auf die diversen Naturweinbewegungen übertragen. Und genauso wie die Avantgardebewegungen von damals wird auch die Naturweinbewegung von heute kritisch hinterfragt, abgelehnt und teilweise auch bekämpft und beizeiten werden auch Warnungen ausgesprochen.

Abschließend möchte ich kurz darauf hinweisen, dass ich Naturweine – was nicht wirklich verwundern wird – als extrem spannend erachte und sie als eine immense Bereicherung der Weinwelt sehe. Prinzipiell macht es, denke ich, Sinn, sie etwas losgelöst von den üblichen Herangehensweise an Wein zu verkosten – speziell dort wo es extrem wird, orange oder schwefelfrei. Man sollte gerade solche Weine einfach auch als Erweiterung ansehen. Als einen Alternativentwurf zu Bekanntem und Altbekanntem.